#DigiWomenKA: Kathrin Gerling

von Katharina Iyen

Weibliche Vorbilder sind wichtig. Sie zeigen Möglichkeiten auf, sie helfen die eigenen Ziele zu definieren und aus Ihren Erfahrungen können wir lernen. In unserer Blogserie #DigiWomenKA trifft Katharina Iyen einmal im Monat ein solches Role Model aus der Karlsruher Digitalbranche, um mehr über sie, ihre Erfahrungen und ihr Engagement zu erfahren. Heute spricht sie mit Kathrin Gerling, Professorin für Mensch-Computer-Interaktion und Barrierefreiheit am Institut für Anthropomatik und Robotik (IAR) der Fakultät für Informatik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT)  und Leiterin der Forschungsgruppe Mensch-Computer-Interaktion und Barrierefreiheit.

Ich treffe Kathrin Gerling in ihrem neuen Büro am KIT. Sie sitzt am Laptop in einem leeren Raum. Entschuldigend lacht sie mich an: „Das ist mein erster Tag heute.“ Gemeinsam laufen wir in die Küche und machen einen Yogi-Tee. Auf meinem Zettel am Beutel steht: „Lasst uns nicht nur miteinander, sondern füreinander Leben“. Das passt überraschend gut, denn Gerlings Forschungsschwerpunkte sind nämlich digitale Technologien und Barrierefreiheit.
Ziel ihrer Forschung im Bereich Mensch-Computer-Interaktion (HCI) ist es, verschiedenen Zielgruppen den Zugang zu interaktiver Technologie im Kontext von Arbeit, Freizeit und Wohlbefinden zu ermöglichen. Was so abstrakt klingt, bringt Gerling auf den Punkt: „Barrieren haben ihren Ursprung in der Beschaffenheit unserer Umwelt. Das gilt auch für digitale Technologien. Sie müssen idealerweise für alle zugänglich sein – genau wie der Rest der Welt.“
Um diese Zugänglichkeit zu schaffen braucht es allerdings noch deutlich mehr Verständnis für den Zusammenhang von körperlichen Unterschieden, Technologie und gesellschaftlicher Teilhabe und Forschung zum Einsatz von Technologie zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Behinderung. Um diese Forschung voranzutreiben leitet Kathrin Gerling das Real-World Lab „Accessibility“, das sich mit dem Design, der Entwicklung und der Evaluation neuartiger Technologien und räumlicher Konfigurationen beschäftigt, die von Menschen mit Behinderung für ein selbstbestimmtes Leben genutzt werden können.

Geprägt von Toleranz und Zusammenhalt

Ich will verstehen, wie das Interesse an der Förderung von Zugangschancen und der Förderung von Vielfalt bei Gerling geweckt wurde und erfahre, dass sie viel herumgekommen ist. Geboren und aufgewachsen ist Kathrin Gerling südlich von Düsseldorf. „Ich hatte eine sehr behütete Kindheit und weiß, dass ich privilegiert bin. Andere Menschen müssen im Laufe ihrer Karriere ganz andere Hürden nehmen als ich.“ Gerling machte einen Bachelor in Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie einen Master in Medien- und Kognitionswissenschaft, beide Abschlüsse erwarb sie an der Universität Duisburg-Essen.
„Ich habe mich vom ersten Studientag an in Duisburg verliebt“, erzählt sie lächelnd. „Im Studium waren wir Leute von überall her und doch irgendwie alle gleich. Es gab einen schönen Umgang miteinander und natürlich waren auch die Forschungsgebiete sehr spannend. Ich mochte diese Zeit sehr, sie war geprägt von Toleranz und Zusammenhalt.“ Ihre größte Herausforderung sieht die KIT-Professorin darin, immer wieder über ihren Schatten zu springen. Gerling gesteht: „Zuerst wollte ich zum Masterstudium nach Schweden, habe mich aber nicht getraut. Ich weiß, das hört sich bei meiner Vita absurd an, aber ich bin im Grunde kein Mensch für große Veränderungen, sie verunsichern mich erstmal. Aber wenn der Wagen dann rollt, geht es irgendwie weiter.“
Ihr Promotionsstudium absolvierte sie am Department of Computer Science an der University of Saskatchewan in Kanada: „Ich saß im Flugzeug über dem Atlantik und fragte mich nur, was ich da eigentlich mache. Im Endeffekt war es aber das Richtige!“, erklärt sie. Denn während Gerling in Kanada lebte, lernte sie ihren jetzigen Mann kennen. Gemeinsam zog die Familie weiter nach England, wo auch der gemeinsame Sohn geboren wurde. Nach fünf Jahren führte der Brexit Gerlings Familie nach Belgien und vergangenes Jahr schließlich zurück nach Deutschland.

Nach Jahren im Ausland und einigen Stationen, kehrte Kathrin Gerling für eine Professur am KIT nach Deutschland zurück. Foto: Kathrin Gerling
Nach Jahren im Ausland und einigen Stationen, kehrte Kathrin Gerling für eine Professur am KIT nach Deutschland zurück. Foto: Kathrin Gerling

Aktuelle Forschung und Bereiche

Hier in Karlsruhe möchte Gerling mit dem neuen Reallabor „Barrierefreiheit“ am KIT ihre Forschung weiter ausbauen und auch interdisziplinär aufstellen. Zum einen nimmt Gerling hierbei die Gestaltungspotenziale neuer Technologien in den Blick: „Es wird viel zu viel anhand von erdachten Durchschnittsmenschen konzipiert. Wir kennen das aus der Mode, wo ein bestimmter Typ bedient wird – der im Endeffekt den meisten Menschen nicht gerecht wird. Genauso müssen Zugänge zu digitalen Technologien anders geschneidert werden.“ Es geht also darum Vorurteile aufbrechen und die Zugänglichkeit zu digitalen Technologien für alle zu maximieren. „Man sollte sich ganz grundsätzlich bei der Gestaltungsphase von Dingen Gedanken machen, wie man sie barrierefrei hinkriegt. Teilhabe von behinderten Menschen am Fortschritt der IT muss Normalität werden, denn nur dann ist es wirklich einer.“

Zum anderen sollen aber auch die Potenziale in den Blick genommen werden, die neue Technologien für den Abbau bereits bestehender Barrieren bieten. Hier setzt auch der disziplinübergreifende Blickwinkel an. So beispielsweise durch die Zusammenarbeit mit Professor Dr. Caroline Karmann, die seit dem Sommersemester 2022 die Professur Architecture and Intelligent Living am Institut Entwerfen und Bautechnik des KIT innehat. Gemeinsam werden die Forscherinnen der Frage nachgehen, wie Barrieren in der (baulichen) Umwelt durch neue Technologien reduziert werden können. „Dann geht es nicht mehr nur um die Frage, wie digitale Technologien barrierefrei gestaltet werden können, sondern auch darum, wie sie effektiv zum Abbau bestehender Barrieren in unserem alltäglichen Leben eingesetzt werden können.“

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#DigiWomenKA Kathrin Gerling mit Reallabor-Tandempartnerin Caroline Karmann. Foto: Kathrin Gerling

Barrierefreiheit erfordert Perspektivwechsel und die Bereitschaft zu strukturellen Veränderungen

Eine Eigenschaft kommt Gerling in Ihrer Arbeit zugute: „Ich kann sehr geduldig beobachten, um dann zu versuchen, die Situation anderer Menschen zu verstehen. Natürlich hilft das auch, wenn wir in unserer Forschung Studien mit Nutzenden durchführen.“ Wichtig ist dies, weil nicht alle Barrieren sofort offensichtlich sind. Dass die virtuelle Welt ebenso Barrieren aufweisen kann, wie ein physischer Raum, wird mir tatsächlich erst durch Gerlings Erläuterungen klarer „Ein einfaches Beispiel ist ein Virtual-Reality-Controller, den man in beiden Händen halten muss. Was ist aber, wenn jemand nur eine Hand hat oder bewegen kann?“ Mittels solcher Forschungsergebnisse, wie sie durch Gerlings Forschungsgruppe produziert werden, könnten Systeme barrierefreier entwickelt werden, so dass auch behinderte Menschen von ihnen profitieren. Im besten Falle gelte dies auch nicht nur im beruflichen Umfeld, sondern zum Beispiel auch in der Freizeit, erläutert Gerling.

Für die Schaffung von gesunden und barrierefreien Umgebungen brauche es allerdings sehr tiefgreifende Veränderungen, die bis in die Strukturen der Institutionen hineinreichten, berichtet Gerling. Denn vieles, passiere nur vordergründig. Ein gutes Beispiel biete hier die Forschung und Entwicklung zu digitalen Technologien selbst.
„Im akademischen Bereich sehen wir zum Beispiel nach wie vor nur eine sehr geringe Anzahl von Menschen mit Behinderung unter den Forschenden“, erklärt Gerling die Tiefe, in der Barrieren wirken. Das führe nämlich dazu, dass diese Perspektiven in der Wissenschaft fehlten, und der Diskurs von nichtbehinderten Menschen dominiert würde.

Stereotype abbauen, Vorbilder sichtbar machen und früh genug fördern

Für die akademische Forschung wünsche sich Gerling aus diesem Grund ebenfalls weniger Barrieren und mehr Chancengleichheit: „Ich frage mich oft, wie Menschen mit akademischen Arbeitsbedingungen umgehen, wenn sie keine Unterstützung im Hintergrund haben. Kurze Arbeitsverträge und zahlreiche Wohnsitzwechsel machen es schwer. Man muss es sich leisten können, so zu arbeiten. Auch diese Barriere ist ein Problem. Sie führt dazu, dass im Wesentlichen nur die Personen weitermachen können, die privilegiert genug sind, um das durchzuhalten. Das führt dazu, dass die Forschungslandschaft selbst wenig divers ausgestaltet ist. Alle haben ähnliche Lebenswege. Wir brauchen aber echte Vielfalt in unseren Teams.“

Gerlings Einstellung zu sozialer Ungleichheit und Teilhabe beeindruckt mich. Und auch, wenn die Diversität nicht bei der Geschlechterfrage endet, möchte ich von ihr wissen, welche Gründe sie für die Unterrepräsentation von Frauen in der IT sieht. „Uns fehlen nach wie vor Vorbilder. Und das nicht nur, wenn wir unsere eigenen Karriereentscheidungen treffen, sondern schon viel früher – Kinderbücher, Spielzeugregale, da wird vieles nach wie vor sehr traditionell dargestellt und vermarktet. Und Ich habe in der Vergangenheit häufig an Tischen gesessen, an denen ich die einzige Frau in der Runde war. Hinzukommt, dass ich, diejenige, die weiß ist und aus einem Akademikerhaushalt kommt, bin dann das Beispiel für Diversität? Das ist zu wenig!“

Ein solches Vorbild können wir in Kathrin Gerling allemal finden, denn auch sie ist hat Barrieren überwunden und hat dazu gelernt. „Ich wachse mit meinen Aufgaben. Außerdem musste ich lernen, zu fokussieren und akzeptieren, dass ich nicht allen Erwartungen gerecht werden kann, sei es im beruflichen oder im privaten Umfeld.“ Priorisieren lernte sie auf ihrem Karriereweg: „Ich musste verstehen, dass ich nicht nur die Freiheit habe, Dinge zu tun, sondern auch, sie zu lassen. Das war ein wichtiger Lernprozess für mich. Das Wort ‚Nein‘ zu benutzen.“