#DigiWomenKA: Jivka Ovtcharova - Frau von Welt mit viel Bodenständigkeit
Weibliche Vorbilder sind wichtig. Sie zeigen Möglichkeiten auf, sie helfen die eigenen Ziele zu definieren und aus Ihren Erfahrungen können wir lernen. In unserer Blogserie #DigiWomenKA trifft Katharina Iyen einmal im Monat ein solches Role Model aus der Karlsruher Digitalbranche, um mehr über sie, ihre Erfahrungen und ihr Engagement zu erfahren. Heute spricht sie mit Jivka Ovtcharova, Ingenieurwissenschaftlerin, Direktorin am Forschungszentrum Informatik Karlsruhe (FZI) und Professorin am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
Jivka Ovtcharova besucht mich am frühen Nachmittag in Ettlingen Stadt. Sie ist eine sehr elegante Frau. Im Flur möchte sie ihre Stiefel ausziehen. Dem beuge ich vor, habe mir extra Schuhe angezogen, um meiner Gästin zu signalisieren, dass es ok ist, wenn sie ihre anbehält. Schnell wird mir klar: Diese Frau ist ganz bodenständig und voll auf dem Teppich geblieben. Eine Eigenschaft, die ich bis jetzt bei allen #DigiWomenKA wahrnehmen konnte. Wir starten unser Gespräch im Sonnenschein meines Wohnzimmer-Erkers bei Schwarztee und Pralinen.
Jivka Ovtcharova ist promoviert in Maschinenbau und Informatik und trägt einen Ehrendoktortitel. Die KIT-Professorin ist Leiterin des Instituts für Informationsmanagement im Ingenieurwesen (IMI) an der Fakultät für Maschinenbau sowie Gründerin des KIT-Lifecycle Engineering Solutions Center (LESC). Gleichzeitig ist sie Direktorin am Forschungszentrum Informatik (FZI) in Karlsruhe. Sie ist Preisträgerin des Edition F Awards 2014 25 Frauen für die digitale Zukunft. Ich bin beeindruckt.
„Eine Freundin, selbst im digitalen Bereich unterwegs, bewarb mich. Ich wurde wirklich unter tausenden Bewerber*innen ausgesucht – das kam für mich völlig unerwartet“, erinnert sich Ovtcharova. Bei Edition F in Berlin hat es der #DigiWoman mit drei Doktortiteln gut gefallen: „Edition F ist ein modernes, großartiges Format. Nicht nur Gerede. Es kommen die zu Wort, die wirklich etwas zu sagen haben.“ Das passt gut, denn sie selbst hält Ted X Talks und diskutiert auf Podien schon mal zusammen mit Politikern wie Günther Oettinger, populären Philosophen wir Richard David Precht oder Starfotografen wie Michel Comte.
Ihre vielen Titel, Tätigkeiten und Auszeichnungen verleiten aber mitunter dazu abzulenken, von einer sehr nahbaren Frau, einer sozialen Aufsteigerin, die nichts geschenkt bekam. „Ich mache mir überhaupt nichts aus Titeln, viel wichtiger sind doch die inneren Werte“, gesteht mir Ovtcharova.
Kindheit und 100.000 Jahre Technik
Jivka Ovtcharovas steiler Karriereweg wurde ihr nicht in die Wiege gelegt. Sie wurde in Bulgarien geboren. Beide Elternteile arbeiteten, so dass es zum Leben reichte. „Meine Eltern waren sehr tüchtig, aber wir waren nicht vermögend. Unser Geld ging für Essen, Kleidung und Kultur drauf,“ erklärt sie. Ihre ältere Schwester brauchte viel Aufmerksamkeit, folglich beschäftigte sich Jivka selbst. Sie interessierte sich für Bücher, insbesondere über Technik und sie bastelte viel.
Wegweisend für ihre weitere Laufbahn war ein Geschenk ihres Vaters, das heute noch im Bücherregal der Professorin zu finden ist. „Er schenkte mir die drei Bände „100.000 Jahre Technik“. Ich war fasziniert von all diesen Fortschritten, die die Menschheit durch die Technik gemacht hat. Erfindungen zu erdenken und Wirklichkeit werden zu lassen, dieser Prozess bedeutet für mich im Grunde Virtualität, die heute mein Forschungsschwerpunkt ist: Man kann sich mental völlig neue Produkte oder Technologien vorstellen und durch das sogenannte Virtual Engineering auch wahr werden lassen. Das Virtuelle ist für mich unendlich und bietet ungeahnte Möglichkeiten für jeden einzelnen von uns. Die virtuelle Welt ist wirklich für alle offen.“
Mit virtuell meint die Expertin allerdings nicht das computergenerierte Metaverse, dieser Digitalraum ist im engeren Sinne für sie nur das technologische Parallelabbild der physischen Realität. Unter Virtualität versteht sie vorwiegend die Vorstellungskraft des Menschen und ihre Verankerung im realen Leben: „Viele Vorstellungen über Neues gehen dabei stark von einer subjektiven Position aus. So bedeutet Neues für viele Menschen etwas neu Geschaffenes, oder etwas, was sie noch nicht kennen – und womit sie noch keine Erfahrungen gemacht haben: ein neuer Film, ein neues Haus oder eine neue Reise.
Dass das Neue in Verbindung zur Veränderung steht, ist allgemein verständlich. Genauer gesagt geht es dabei nicht nur darum, was das Neue ist, sondern welcher Veränderungen bzw. Entwicklungen es unterliegt, welche Relationen es eingehen kann und nicht zuletzt, welche Reaktionen es bewirken kann. Dabei ist der Übergang von Virtualität zu Realität – und umgekehrt – fließend. Egal, wo auf der Welt du dich befindest, unter welchen Rahmenbedingungen du geboren bist, jeder Mensch hat Imaginationskraft und Fantasie. Durch diese Fähigkeiten und mit den richtigen Technologien im Gepäck, kann er neue Werte schaffen, die nachvollziehbar sind.“ Ovtcharova erklärt mir, dass unsere Daten dabei die einzige Ressource sind, die wächst und nicht schrumpft. Die Ausdehnung der physischen Realität in das Virtuelle werde sich beschleunigen. Das Produkt der Virtualität sei unendlich, wie ihre Natur. „Daten sind und bleiben unsere einzige unendliche Ressource.“
Schicksalsschläge, Learnings und Anpassung
Tief beeindruckt von ihren Worten, frage ich mich, ob der Blick in ihre Vergangenheit mir hilft zu verstehen, welche Erfahrungen diese Gedanken und diese Person geformt haben. Als ob mir meine Frage ins Gesicht geschrieben steht, beginnt Ovtcharova zu erzählen. Die Katastrophe von Tschernobyl Ende April 1986 veränderte von einer Minute auf die andere ihr Leben. Damals arbeitete sie als Atomingenieurin an der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften in der Hauptstadt Sofia: „Ich erinnere mich an den 2. Mai 1986 als einen Tag voller Sonnenschein und gleichzeitig unsichtbarer Gefahr. Wir waren auf einer grünen Wiese und mussten die Radioaktivität messen. Alles schien schön – aber die Geigerzähler spielten verrückt. Die Strahlung war irrsinnig hoch. Damals habe ich gelernt, dass man nichts wirklich kontrollieren und aus Gutem schlagartig Schlechtes werden kann.“
Die Professorin denkt nach und fährt fort: „So wie heute in der Diskussion über die sogenannte Künstliche Intelligenz. Wenn ich etwas gelernt habe, dann mich zu „häuten“. Das hat mal ein guter Freund über mich gesagt. Ich kann das bestätigen: Ich verfüge über eine extreme Anpassungsfähigkeit. Sie ist definitiv eine meiner wichtigsten Eigenschaften, die mir in schweren Situationen immer geholfen hat. Es geht immer weiter. Man ist in jeder Situation für sich selbst verantwortlich.“ Mit 30 Jahren lebte sie von 800 D-Mark im Monat auf 17 Quadratmetern. Im Oktober 1987 kam sie nach Deutschland, um in Darmstadt mit Promotionsstipendium zu forschen. „Bis 1996 war ich an der Technischen Universität sowie am Fraunhofer Institut für Graphische Datenverarbeitung tätig. Besessen habe ich nichts, außer einen Kopf, zwei Hände und drei Koffer“, berichtet sie mit einem Lachen.
Auf kleiner Flamme zu existieren störte sie nicht: „Ich fühlte mich wohl, hatte mein Ziel vor Augen. Meine ersten Investitionen waren ein Fernseher und eine Nähmaschine. Der Fernseher, um mein Deutsch nachzubessern und die Nähmaschine, um mir – mit Burda-Schnittmustern – modische Kleider zu nähen.“ In der Familie legte man großen Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild und gute Garderobe: „In Osteuropa ist man sehr sensibilisiert, wie man in der Öffentlichkeit auftritt. Meine Eltern haben mir beigebracht, sehr darauf zu achten.“ Ihre Kleidung fiel positiv auf: „Ich machte mir schon immer etwas aus Mode. Professionell und dabei elegant zu sein, ist eines meiner Ideale.“
Dass ihr Dipl-Ing.-Abschluss der Atomenergie für sie keine Zukunftsperspektive mehr bot, war für sie nach der Katastrophe von Tschernobyl schnell klar: „Nach ein paar Stunden war ich geistig schon Richtung Computersimulationen unterwegs“, erzählt sie mir lachend. Kurz danach widmete sie sich, in Deutschland angekommen, dem Computer-Aided Design (CAD) und der Virtuellen Realität (VR). Mitte 90-er Jahre wechselte Jivka Ovtcharova in die Automobilindustrie. Mit zwei Doktortiteln in der Tasche wollte die gebürtige Bulgarin nicht als reine Akademikerin gelten, sondern als Vollblutingenieurin. Von 1998 bis 2003 leitet sie bei General Motors das Process and System Integration Center im Internationalen technischem Entwicklungszentrum der Adam Opel GmbH in Rüsselsheim. „Der Einstieg in die Branche war schwierig“, erinnert sie sich. „Meine osteuropäische Herkunft und dass ich eine Frau war, machten ihn anspruchsvoll. Durch meine interdisziplinäre Bildung und Qualifikation besetzte ich jedoch eine wichtige Nische.“
Vernetzung von #DigiWomen braucht es auch heute noch in Karlsruhe
Sich als Frau durchzusetzen, in einem Umfeld, das bisher eher durch einen Mangel an weiblichen Führungskräften gekennzeichnet war, setzt sich in ihren Stationen fort. In Karlsruhe ist sie seit 2003. Damals trat sie ihre Professur an der Fakultät für Maschinenbau am KIT an, als erste Professorin der 150-jährigen Geschichte der Fakultät. Ihre Erinnerungen daran sind daher nicht nur positiv: „Ich war eine Frau und Ausländerin, die immer noch mit Akzent sprach, damals verkrafteten das nicht alle Kollegen“. Sie erinnert sich noch gut, wie sich bei einer Veranstaltung ein emeritierter Professor herablassend äußerte. „Er sagte zu mir: Ich verstehe nicht, was Sie sagen. Wie sind Sie denn überhaupt Professorin geworden?“ Solche Vorfälle nicht persönlich zu nehmen, das hat sie gelernt: „Ich habe begriffen, dass so ein Verhalten am Ende nichts über mich, aber sehr viel über mein Gegenüber aussagt.“
Ihren Frieden mit Karlsruhe konnte sie daher dennoch finden. „Hier im Südwesten fühle ich mich wirklich wohl. Es ist ein bisschen wie in Bulgarien, es gibt Berge und Wiesen und die Sonne scheint, das brauche ich.“ Außerdem schätzt sie die Region Karlsruhe für ihre Vielfalt in Sachen IT. „Wir haben hier über 3.000 IT-Firmen, das ist die höchste Konzentration in Europa. Ich habe viel mit dem CyberForum und der Technologieregion Karlsruhe (TRK) zu tun. Ich erlebe in der Region echten Pioniergeist.“ Außerdem mag Ovtcharova an den Städten der Region ihre Überschaubarkeit. „Ich habe mehrere Jahre in Millionenstädten wie Moskau und Sofia gelebt. Dort sind immer viele Menschen um dich herum. Irgendwann willst du einfach mal deine Ruhe und ausreichend Raum. Wirklich angekommen bin ich erst in Baden-Baden.“
Frauen in der IT und Engineering sieht sie vor Ort allerdings noch nicht so gut vernetzt, eher solche aus der digitalen Medienbranche. So engagierte sie sich beispielswiese als Gleichstellungsbeauftragte am KIT. „Ich finde es ist Zeit aufzuhören, über Geschlechter zu diskutieren. Die Digitalisierung hat kein Geschlecht. Es ist angebracht, mit dieser Diskussion über Frauen und Männer oder Frauen gegen Männer aufzuhören. Was sich ändern muss, ist Diversität – durch Bildung und Erziehung – weiterzutragen. Stereotype muss man abschaffen und alle als eine einheitliche Gruppe betreuen“.
Von Poesie zur Künstlichen Intelligenz
Und schon wieder ist so ein Satz gefallen, der mich beeindruckt durch Weitblick. Ich zweifle und frage mich, ob es eigentlich etwas gibt, was sie nicht kann. Erschrocken stelle ich fest, dass ich den Satz laut ausgesprochen habe. Ovtcharova lacht und muss nicht lang überlegen. „Politikerdeutsch“, scherzt sie und fügt hinzu: „Ich kann nicht drumherum reden. Ich komme aus der Technikwelt – was ich sage, muss funktionieren.“
Dabei finde ich, dass Ovtcharova sich während unseres Gesprächs oft sehr poetisch ausdrückt. Als ich sie darauf hinweise, lacht sie: „Sie haben mich erwischt. Ich habe als Kind Gedichte geschrieben.“ Ihre Affinität zu den Künsten merkt man ihr an, diese Frau ist alles andere als ein IT-Nerd. Eher Kosmopolitin mit Anteilen einer Universalgelehrten. So schreckt sie nicht einmal vor philosophischen Gedanken zurück. Gegen den Begriff der Künstlichen Intelligenz beispielsweise wehrt sie sich. Sie findet ihn irreführend: „Es gibt keine künstliche Intelligenz. Das sind Algorithmen und Muster. Wenn, dann ist es eine Maschinen-Intelligenz. Das Besondere an der menschlichen Intelligenz ist gerade, dass sie nicht nach Mustern funktioniert. Der Mensch hat Bewusstsein und sucht nach der Lösung eines Problems, ohne das Problem überhaupt richtig zu kennen. Das ist Ambiguität und Kreativität und das kann die Maschine nicht. Maschinen sind nicht neu-schöpferisch, sie kreieren nichts Originäres.“
Ausdauernder Schöpferinnengeist
Ovtcharova, deren Ruhestandsalter nicht mehr so fern ist, beweist damit auch ganz deutlich, dass die Fragen, wie wir unsere Zukunft gestalten, keine Frage des Alters ist. Im Gegenteil, denn ans Ausruhen denkt sie noch lange nicht. „Das biologische Alter bedeutet für mich nichts, das ist nur eine Zahl. Ich habe zwar heute die Sicherheit einer Beamtin, aber ich mache mir das Leben immer ein bisschen unbequem, weil ich wirklich wachsam bleiben möchte.“
Gerade startet sie in Kooperation mit der Stadt Bühl und der Technologieregion Karlsruhe das neue Innovationsprojekt RegioMORE in Bühl – mit einem Volumen von 12 Millionen Euro. In ihrem Konzept der Sandbox-Labs sollen Firmen, wie beim Sandkastenspielen, Prozessumstellungen simulieren können – ohne Konsequenzen. Weiter sieht das Konzept Bildungszugang für viele, auch fachfremde, Personengruppen vor. „Wir brauchen mehr Fachkräfte für die Unternehmen, da sollte man keine Angst haben, beispielsweise alleinerziehende Mütter, die vielleicht auch lange nicht im Job waren, einzulernen. Es geht darum, dass alle Menschen an der Gesellschaft teilhaben und etwas beitragen können. Nur so schaffen wir wirklich regionale digitale Transformation. Wir müssen als allererstes unsere Einstellungen ändern.“
Aber damit ist es nicht getan. Momentan befindet sie sich in der Konzeptionsphase eines Buches zum Thema Virtualität. „Nicht akademisch, eher prosaisch geschrieben!“, erläutert Jivka Ovtcharova. Und da ist sie wieder, die Kreativität in ihrer technischen Arbeit. Und so schließt sie lächelnd – und wieder sehr poetisch – auch unser Gespräch: „Solange man auf dieser Welt ist, ist das Leben wie ein Fluss. Und wenn irgendetwas kommt, dann wechselt der Fluss die Richtung und fließt irgendwie anders – aber weiter. Genau wie die Virtualität. Das Virtuelle in uns fließt stetig, verändert sich fortlaufend, entwickelt sich weiter. Es ist eine Möglichkeit, sich in undeutlichen Situationen Orientierung zu verschaffen. Eine große Hilfe, gerade für das Leben heute.“
Kontakt zu Jivka Ovtcharova
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KIT-Seite: https://www.imi.kit.edu/24.php