TikTok als Bühne extremistischer Ideologien? - Wie TikTok und Co. unsere Realität verändern

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Wenn wir an soziale Netzwerke und Plattformen denken, kommt uns oft ein vertrautes Schlagwort in den Sinn: Filterbubbles. Besonders TikTok wird häufig mit der Vorstellung verknüpft, dass Algorithmen Nutzer*innen in ihrer eigenen Ideologie gefangen halten. Zwei Nachwuchsforscher aus Karlsruhe haben jetzt spannende Ansätze gefunden, die diese gängige Annahme infrage stellen könnten.
Marcel Erik Lemmer und Ioannis Theocharis von der Karlshochschule Karlsruhe untersuchen, wie TikTok als Plattform eine junge Öffentlichkeit formiert und möglicherweise neue Formen politischer Auseinandersetzung fördert. Ihre ersten Erkenntnisse deuten darauf hin, dass TikTok nicht nur Meinungen verstärkt, sondern auch Raum für Vielfalt und demokratischen Diskurs bieten könnte – ein faszinierender Gedanke, der viele Fragen aufwirft.
Im Interview erzählen die beiden von ihrem Experiment und den Dynamiken, die sie auf TikTok beobachten konnten. Welche Inhalte sehen wir tatsächlich – und was könnte diese digitale Öffentlichkeit für unsere Demokratie bedeuten? Die Antworten darauf sind ebenso überraschend wie diskussionswürdig.

karlsruhe.digital (k.d): TikTok wird oft als Plattform für oberflächliche Unterhaltung wahrgenommen, aber Sie haben in Ihrer Forschung auch Hinweise darauf gefunden, dass es politische Mobilisierung und Meinungsvielfalt fördern kann. Was spricht aus Ihrer Sicht dafür, dass TikTok tatsächlich zur Demokratisierung beitragen könnte – und wo liegen die Grenzen?

Marcel Erik Lemmer (MEL): Ich denke, wir müssen zunächst anerkennen, dass große Teile demokratischer Gesellschaften kaum noch Zugang zur Tagespolitik finden. Menschen sehnen sich zudem nach größeren Narrativen und Diskursen – und TikTok greift beide dieser Bedürfnisse auf. Natürlich ist es ein Problem, dass bisher vor allem Extremisten die Plattform erfolgreich nutzen. Eine niedrigschwellige Vermittlung politischer Inhalte kann nur ein erster Schritt sein, um wieder eine mündigere politische Öffentlichkeit zu schaffen. Besonders bei Protestwellen, wie zuletzt in Georgien oder Syrien, hat TikTok eine wichtige Rolle gespielt, indem es schnelle Mobilisierung und die Verbreitung von Informationen ermöglicht hat. Und gleichzeitig ist TikTok nicht so simpel, wie es wirkt. Die Komplexität von Witzen, Memes und ihrer politischen Botschaft wird oft unterschätzt, da sie subversive und tiefgründige Kritik auf zugängliche Weise vermitteln können. TikTok kann der beste „Politik-für-Einsteiger-Kurs” und damit durchaus ein Demokratisierungsinstrument sein. 

Ioannis Theocharis (IT): TikTok-Videos werden durch ihre niedrigschwellige Vermittlung der Komplexität eines Themas an manchen Stellen möglicherweise nicht vollständig gerecht. Gleichzeitig sind sie Teil eines digitalen Ökosystems, das sich ständig weiterentwickelt und verschiedene Perspektiven miteinander verbinden. Gleichzeitig sind TikTok-Videos Bestandteil eines digitalen Ökosystems, welches sich in einem steten Prozess der Anpassung und Koexistenz divergierender Perspektiven befindet. Daher kann die These aufgestellt werden, dass die Vielfalt an Meinungen potenziell verstärkt wird und damit auch die Tiefe der Beleuchtung eines Themas zunimmt. Uns ist wichtig zu betonen, dass auch traditionelle Medien Themen „verflachen“ und unterkomplex darstellen. Die „Tiefe“, die durch die Darstellung unterschiedlicher Perspektiven erreicht werden könnte, fehlt hier häufig. Oft verhindert der Druck zur Professionalisierung oder der Wunsch, sozial erwünschte Positionen zu präsentieren, eine wirklich vielfältige Darstellung von Meinungen und Standpunkten.

k.d: Könnten Plattformen wie TikTok also sogar dazu beitragen, junge Menschen aus verschiedenen politischen Lagern zu vereinen statt sie eher weiter auseinander zu treiben?

MEL: Das ist wirklich zentral. Wichtig ist zu sehen, dass TikTok nicht nur junge Menschen erreicht, sondern eine breite Bevölkerungsgruppe anspricht. Was dabei auffällt, sind neue Diskurse und Kontaktpunkte, die es so lange nicht mehr gab. TikTok hat das Potenzial, politische Bildung und Beteiligung zu fördern, auch wenn dieses Potenzial oft von anderem Content überlagert wird. Besonders spannend ist die direkte Konfrontation: Über Stitches und Livestreams treffen politische Gruppen aufeinander und diskutieren auf einem respektablen Niveau – oft mit Humor und Ironie. Auf TikTok können Zuschauer*innen während Livestreams virtuelle Geschenke schicken. Diese Geschenke erscheinen als Symbole wie Cowboy-Hüte, Blumen oder andere Animationen und werden direkt im Stream angezeigt. Oft werden sie humorvoll in das Gespräch oder den Ablauf eingebunden. 

k.d.: Wie erklären Sie sich, dass dieser Aspekt der Deradikalisierung von anderer Seite nicht nur nicht wahrgenommen wurde, sondern eigentlich Einigkeit über das Gegenteil herrscht?

MEL: Ganz so allein sind wir mit unseren Erkenntnissen möglicherweise gar nicht. Radikalisierungs- und Deradikalisierungsprozesse sind wie Konzepte der Filterblasen, Social Bots oder Desinformation wissenschaftlich umstrittener, als es die öffentliche Debatte oft vermuten lässt. Insgesamt scheint das vor allem ein Problem der Wissenschaftskommunikation zu sein. Umso dankbarer können wir Formaten wie karlsruhe.digital sein, die solche Themen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.

k.d: Sehen Sie diese Gefahr, dass TikTok zu einer Plattform für die Radikalisierung junger Menschen wird, auch oder stützt Ihre Forschung das gar nicht? 

IT: Die Möglichkeit einer überproportionalen Exposition gegenüber extremistischen Inhalten zumindest in der Anfangsphase eines TikTok-Accounts kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Social Media Algorithmen begünstigen eine Tendenz zur Steigerung der Interaktionsrate, die bei extremistischen Inhalten aufgrund ihrer „Außergewöhnlichkeit“ ohnehin bei einigen Zielgruppen gegeben ist. Die Eigenschaft der „Außergewöhnlichkeit“ kann für Jugendliche einen entscheidenden Faktor darstellen. Unsere Beobachtungen lassen den Schluss zu, dass z.B. AfD-TikToks als Entry-Videos für extremistische Inhalte fungieren können. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass die erste Verbindung zur AfD durch extremistische Videos hergestellt wird. In Kombination mit der Slot-Machine-Dynamik dieser Plattformen, welche die Interaktionszeit mit dem Medium maximieren möchten, besteht das Potenzial, Personen in diesen politischen digitalen Räumen zu halten. Allerdings hat sich die Forschungsliteratur bislang noch wenig entwickelt, die sich mit der Frage befasst, in welchem Umfang sich Menschen tatsächlich durch Plattformen wie TikTok radikalisieren oder sogar auch deradikalisieren, insbesondere durch die Vielfalt an Inhalten, die dort präsentiert werden können.

Screenshots von Stitches und Livestreams.
Stitches und Livestreams – ein Einstiegsangebot sich mit Politik auseinander zu setzen? Foto: privat

k.d: Können Sie genauer erklären, wie der Algorithmus extremistische Inhalte auf TikTok aufgrund ihrer ‚Außergewöhnlichkeit‘ verstärkt?

IT: Bei einem Shitstorm beispielsweise, also bei einer große Menge an Kommentaren, die sich durch einen überwiegend abwertenden Inhalt auszeichnen, werden diese seitens der Algorithmen als signifikante Interaktion „übersetzt“. Da die Interaktion die „Währung“ dieser Plattformen darstellt, werden vielseitige Interaktionen belohnt, was zu einer Verstärkung der Reichweite von Videos beiträgt, die besonders polarisierend sind.

MEL: An den Shitstorms können wir auch wieder ganz gut die Grenzen des Begriffs der Bubble sehen. Denn Phänomene wie das „Hate Following“ oder die Shitstorms zeigen, dass sich Communities gezielt in andere Bubbles begeben, um deren Wohlfühlatmosphäre zu stören und sie mit ihren Inhalten zu konfrontieren. Mit dem derzeitigen Begriffsverständnis von Bubbles werden solche Phänomene nicht erfasst, die vielleicht eher einer Internet-Bandenbildung näherkommen. 

k.d: Was könnte TikTok tun, um diese Entwicklung zu bremsen?

IT: Im Rahmen einer Konferenz hatten wir die Gelegenheit, mit Vertreter*innen von AlgorithmWatch in einen Austausch zu treten. AlgorithmWatch vertritt die Auffassung, dass eine Transparenz der Algorithmen unabdingbar ist. Dieser Eingriff müsste jedoch von höheren Instanzen, wie beispielsweise der Europäischen Union, erfolgen. Wenn es tatsächlich der Algorithmus ist, der die Inhalte prägt, dann müsste eine Reform ansetzen, die Vielfalt und Qualität stärker priorisiert. Der erste Ansatz müsste sein, die Plattformen dazu zu bewegen, strikt gegen extremistischen Content vorzugehen, der nicht mit unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung zu vereinbaren ist. Gleichzeitig sehen wir die Verantwortung nicht nur beim Algorithmus, sondern auch bei uns. Es braucht mehr Content aus dem demokratischen Spektrum, der die Eigenschaften der „Neuen Öffentlichkeit“ – casual, rough und real – aufgreift. Solche Inhalte können nicht nur den Algorithmus beeinflussen, sondern auch das Publikum erreichen, ohne die Dynamik und Schnelligkeit der Plattform zu verlieren.

MEL: Für uns beide ist selbst noch Diskussion, inwieweit TikTok überhaupt moderiert und bestimmte Inhalte bevorzugt. Das bleibt alles in der Black Box des Algorithmus. Mein persönlicher Eindruck ist, dass TikTok kaum eingreift, sonst würde die Plattform nicht so gut funktionieren. TikTok selbst hat vordergründig das Interesse, die Nutzer*innen möglichst lange am Bildschirm zu halten. Ob es uns gefällt oder nicht, ist die Plattform wahrscheinlich vor allem ein Ergebnis der Vorlieben und Bedürfnisse der vielen Nutzer*innen für bestimmte Inhalte.

k.d: Gibt es Unterschiede zwischen TikTok und anderen Plattformen wie Instagram oder YouTube in Bezug auf die Förderung von politischem Diskurs und die Verbreitung extremistischer Inhalte? Was macht TikTok in dieser Hinsicht besonders?

IT: Der Vergleich mit YouTube ist spannend. YouTube bietet über die Vorschlagsliste zahlreiche Videostränge, zwischen denen Nutzer*innen wählen können. TikTok ist dagegen viel unmittelbarer: Nach jedem Swipe wird automatisch das nächste Video abgespielt. Dadurch reduziert TikTok bewusst die aktiven Wahlmöglichkeiten der Nutzer*innen. Diese direkte Konfrontation birgt Risiken, wie etwa das unreflektierte Hineingleiten in bestimmte Inhalte, bietet jedoch auch Chancen, da Nutzer*innen eine Vielzahl unterschiedlicher Inhalte und Formate präsentiert werden.

MEL: Instagram hat mit Reels und YouTube mit Shorts nachgezogen, um diese Unmittelbarkeit zu kopieren – genau das war TikToks revolutionärer Ansatz. Gleichzeitig bleibt TikTok, wohl auch aufgrund seiner Größe, bei der Moderation und Zensur von Inhalten weniger effektiv als andere Plattformen, wodurch extremistische Inhalte leichter verbreitet werden können.

k.d: Wo liegen die Grenzen bzw. Schwächen Ihrer Methodik? Welche weitere Forschung wäre jetzt notwendig?

IT: Unsere Methodik ist primär qualitativ und basiert auf der Analyse einzelner Accounts und Interaktionen. Dadurch lassen sich tiefere Einblicke gewinnen, aber keine statistisch repräsentativen Aussagen treffen. Eine größere, quantitativ ausgerichtete Studie wäre nötig, um breitere Nutzungsmuster im gesamten politischen Spektrum und mehr Kontrollgruppen einzubeziehen. Besonders relevant wäre auch eine detaillierte Untersuchung der Sprachmuster in Kommentaren bei Livestreams, in denen politische Gruppen aufeinandertreffen. Und zuletzt sollten die offenen Fragen zum Algorithmus und möglichen Bias zugunsten extremistischer Positionen geklärt werden.

k.d:  Welche langfristigen Implikationen hat Ihre Forschung für die Art und Weise, wie soziale Medien unsere öffentliche Kommunikation prägen? Glauben Sie, dass Plattformen wie TikTok in Zukunft eine größere Verantwortung für die Inhalte übernehmen müssen, die sie verbreiten?

MEL: TikTok gibt aktuell den Takt für die öffentliche Kommunikation vor. Reels, die auf TikTok funktionieren, funktionieren auch auf Instagram – und werden zukünftig verstärkt in unserem alltäglichen Leben ihren Platz finden. Wenn ein Christian Lindner von D-Day und offener Feldschlacht spricht oder Olaf Scholz ihn in aller Öffentlichkeit sehr persönlich angreift, wirken diese Narrative fast wie das Ergebnis einer TikTok-Logik. Zur Frage der Verantwortung: Hier sehe ich nicht nur die Plattformen in der Pflicht, sondern auch uns als Gesellschaft. Warum überlassen wir die Gestaltung dieser mittlerweile fast schon essentiellen digitalen Infrastrukturen – wie Social Media, Kleinanzeigen oder Carsharing-Plattformen – ausländischen Konzernen? Staat und Zivilgesellschaft könnten diese Verantwortung übernehmen, indem sie solche Plattformen transparent und für alle zugänglich gestalten. Social Media-Plattformen versuchen mit Faktenchecks und Community Notes bereits Verantwortung an die Nutzer*innen zurückzugeben. Umso dringender stellt sich die politische Frage: Warum schaffen es Staat und Zivilgesellschaft nicht, diese Infrastrukturen eigenständig aufzubauen und zu verwalten?


Portrait Ioannis Teocharis

Ioannis Theocharis verfügt über einen interdisziplinären Hintergrund in Biomedizintechnik, Volkswirtschaftslehre und Sozialwissenschaften. Seine Forschung konzentriert sich auf ökologische und politische Ökonomie sowie die Analyse mentaler Infrastrukturen, die Systempfadabhängigkeiten aufrechterhalten.



Portrait Marcel Erik Lemmer

Marcel Erik Lemmer studierte Soziologie und Politikwissenschaft in Frankfurt und Wien. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Untersuchung von Staatlichkeit, Zivilgesellschaft und extremistischen Bewegungen. Außerdem ist er Gründer der Jungen Demokratiestiftung. Beide arbeiten im Reallabor Future Democracies.