#DigiWomenKA: Dr. Linda Nierling

Dr. Linda Nierling in ihrem Büro am ITAS des KIT. Foto: Katharina Iyen

Weibliche Vorbilder sind wichtig. Sie zeigen Möglichkeiten auf, sie helfen die eigenen Ziele zu definieren und aus ihren Erfahrungen können wir lernen. In unserer Blogserie #DigiWomenKA trifft Katharina Iyen einmal im Monat ein solches Role Model aus der Karlsruher Digitalbranche, um mehr über sie zu erfahren. Heute spricht sie mit Dr. Linda Nierling, Leiterin der Forschungsgruppe Digitale Technologien und gesellschaftlicher Wandel am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).

Ich treffe die Forschungsgruppenleiterin Linda Nierling in ihrem Büro am ITAS in der Karlstraße. Wir machen es uns in ihrem gemütlichen Dachbüro bequem und beginnen bei strahlendem Sonnenschein unser Interview. Linda Nierling stammt aus Niedersachsen. Sie ist in einer eher ländlichen Region nahe Braunschweig aufgewachsen, wo sie auch Abitur machte. Für ihr Studium der Umweltwissenschaften zog sie dann nach Lüneburg. Mit einem Schmunzeln sagt sie auf Nachfrage, dass sie die erste aus ihrer engeren Familie ist, die promoviert hat. Nur wenige aus ihrer Familie studierten – ihre Eltern sind keine Akademiker*innen. Ihr Vater war Schmied, bevor er in der Öl-Branche arbeitete. Ihre Mutter war Rechtsanwaltsfachangestellte, übernahm aber in der Familie die Rolle der Hausfrau und Mutter.

Nierling promovierte in Soziologie und arbeitete dabei immer interdisziplinär, auch am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des KIT – dem ITAS. Ein halbes Jahr lang forschte sie in Nordschweden zum Einfluss von Technologien auf Arbeitswelten sowie zur Digitalisierung und Arbeit. Nierling ist schon lange an dem Institut tätig, konnte jedoch auch Erfahrungen an anderen Orten sammeln. Ihre Stationen führten sie nach Zürich, Schweden und Graz. Während ihres Studiums absolvierte sie ein Auslandssemester an der ETH Zürich und begann anschließend ihre erste Stelle am ITAS. Dort arbeitet sie bis heute. „Eher untypische für eine wissenschaftliche Laufbahn, so lange am selben Ort zu sein“, lacht sie.

Bei ihrem letzten Karriereschritt übernahm sie die Leitung der Forschungsgruppe Digitale Technologien und gesellschaftlicher Wandel. Nierling ist in der Technikfolgenabschätzung zuhause und damit an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politikberatung tätig. Sie arbeitet in wissenschaftlichen Forschungsprojekten, berät aber auch das EU-Parlament zu Digitalthemen. Beispielsweise koordinierte sie eine Studie zu Assistenztechnologien für Menschen mit Behinderungen und forschte  zu digitaler Desinformation am Fallbeispiel Deep Fakes.

„Technische Barrieren sind vor allem soziale Barrieren“, erklärt sie mir. Und ergänzt: „Dies zeigt sich gerade im Feld der digitalen Barrierefreiheit. Wir brauchen eine bessere Inklusion auf dem Arbeitsmarkt und einen Abbau der Hürden in digitalen Prozessen. Jede Art der Behinderung hat andere Anforderungen. Doch oftmals scheitert die Inklusion in den Arbeitsmarkt nicht an den vorhandenen technischen Lösungen, sondern eher am Willen, die Personen einzustellen und gute Bedingungen für diese zu schaffen.“

Linda Nierling beschäftigt sich derzeit damit, wie KI so gestaltet werden kann, dass Menschen in der Arbeitswelt von ihr profitieren. Spannend ist für sie stets die Schnittstelle zwischen digitaler Technik und den Menschen, die sie einsetzen. Die Notwendigkeit in solchen sozio-digitalen Arrangements eine übergreifende Perspektive einzunehmen, zeigt sich auch im Themenfeld von KI und Assistiven Technologien. „Während viel über Diskriminierung durch künstliche Intelligenz gesprochen wird, liegt der Fokus in der allgemeinen Debatte oft auf Themen wie Rassismus oder Geschlechtsdiskriminierung. Menschen mit Behinderungen sind in diesem Diskurs zu oft nicht ausreichend berücksichtigt, obwohl es hier eine lange Tradition der Diskriminierung gibt“, betont sie.

Sie möchte die Chancen und Risiken von KI erforschen: „Was sind die Gefahren, aber auch Integrationspotenziale von Künstlicher Intelligenz?“ Ich frage genauer nach, was sie konkret weiterentwickeln möchte. Nierling betont, dass es insbesondere im Hinblick auf die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Wirkungen und neuen Technologien im Feld der KI viel Forschungsbedarf gebe.

„Künstliche Intelligenz wird gerade mit Blick mit Entwicklungen wie der generativen KI relevant für nahezu jede Berufsgruppe, vom CEO über den Sozialarbeiter bis zur Lehrerin, das sieht man aktuell an Chat GPT, eerläutert Nierling. Um alle mitzunehmen, stelle sich die Frage, was passiert, wenn künstliche Intelligenz mehr und mehr den Alltag durchdringt. „AI Literacy“ stelle dabei ein wichtiges Schlagwort dar. Der Begriff beschreibt vereinfacht gesagt, wie gut wir die Sprache der KI sprechen und verstehen können. Er beinhaltet aber auch den individuellen und organisatorischen Umgang mit damit verbundenen Risiken und Folgen.

Das Projekt „Digitales Deutschland | Monitoring zur Digitalkompetenz der Bevölkerung“schreibt dazu: „Künstliche Intelligenz ist Teil von immer mehr Technologien. Allerdings ist das Verständnis für Künstliche Intelligenz bei Nutzer*innen (und Entwerfenden) begrenzt. Es kommt zu Missverständnissen und die Nutzer*innen erkennen nicht immer, dass sie mit Künstlicher Intelligenz interagieren. In einer Welt, in der Künstliche Intelligenz zunehmend an Bedeutung gewinnt, bedarf es Gedanken darüber, welche Kompetenzen die Menschen brauchen. Denn mit Künstlicher Intelligenz verändert sich die Kommunikation, die Arbeit, das Leben der Menschen untereinander und mit Maschinen.“

Es geht um Kompetenzen, welche die Nutzer*innen dazu befähigen, Technologien Künstlicher Intelligenz kritisch zu evaluieren, mit ihnen effektiv zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten sowie Künstliche Intelligenz als Tool online, zu Hause und in der Arbeit zu nutzen. „Im Kern geht es bei AI Literacy darum, KI-Systeme zu verstehen, sie sinnvoll einzusetzen und die Auswirkungen zu bewerten, die sie auf unser Leben und unsere Gesellschaft haben“, erläutert Nierling.

Seit dem Jahr 2020 leitet sie die interdisziplinäre Forschungsgruppe „Digitale Technologien und gesellschaftlicher Wandel“ am ITAS. Mit der Perspektive der Technikfolgenabschätzung analysiert und bewertet die Gruppe, Entwicklungen im Feld der digitalen Technologien hinsichtlich ihrer Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen – sowohl theoriegeleitet als auch empirisch. Weiter betreut sie Doktoranden im Promotionkolleg Barrierefreiheit durch KI-Basierte Assistive Technologien (KATE). Ziel des Programms ist es, die Autonomie und Teilhabe von Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu verbessern sowie die Folgen und ethischen, rechtlichen, sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen von KI-Systemen zu untersuchen.

Es wird immer deutlicher, dass es vor allem die transformativen Dimensionen der Digitalisierung sind, die im Mittelpunkt von Nierlings Forschung stehen. Antrieb ist die Frage wie die Digitalisierung gestaltet werden sollte, so dass sie sich am Wohl aller orientiert. Dabei betont die Soziologin, dass noch keine abschließende Definition eines „Wohls“ in der digitalisierten Welt gefunden wurde. Diese bleibt letztlich eine Frage gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse.

Dr. Linda Nierling mit unserer Autorin Katharina Iyen am ITAS und in der zweiten Bildhälfte Schwedische Porzellan-Schuhe. Foto: Katharina Iyen
Dr. Linda Nierling mit unserer Autorin Katharina Iyen am ITAS. Die schwedischen Porzellanschuhe in der zweiten Bildhälfte zieren den Schreibtisch. Foto: Katharina Iyen

Mit ihrer Forschung setzt sie an ebensolchen offenen Fragestellungen an. Auch im Rahmen des „Reallabors für Robotische Künstliche Intelligenz“. Hier tritt ein großer Kreis von potenziellen Anwendenden, Profiteur*innen und Benachteiligten von KI-Technologien aller Altersstufen eng mit Forschenden aus Technikfolgenabschätzung und Informatik des KIT in Kontakt. In Realexperimenten erarbeiten sie gemeinsam Anwendungsszenarien. Diese transdisziplinären Ansätze helfen, die jeweiligen Möglichkeiten, Grenzen und Risiken robotischer KI-Technologien kontextabhängig zu analysieren. „Letztlich zeigt sich an diesem Projekt vor allem die Herausforderung, der digitalen Transformation eine Richtung zu geben. Denn hier kommen viele unterschiedliche Interessen zusammen und es gibt ganz unterschiedliche Perspektiven darauf, wie KI-Technologien konkret weiter entwickelt und in welchem Umfang sie in soziale Kontexte eingebettet werden sollten“, so Nierling.

Ein niederländischer TA-Forscher hat 1997 das noch immer zitierte Leitmotiv „Better technologies (in a better society)“ für die transdisziplinäre Weiterentwicklung von Technologien beschrieben. Die Frage danach, was „bessere Technologien“ aber auch was eine „bessere Gesellschaft“ ist, ist bei genauerem Blick allerdings ziemlich komplex und stark davon abhängig, in welchen sozio-digitalen Settings die jeweilige Bewertung stattfindet. Gerade der Blick auf mögliche Zukünften und Visionen kann in diesem Prozess eine wichtige, orientierende Funktion einnehmen.

Auch wenn ich Nierling noch ewig zu ihrer Forschung befragen könnte, interessiert mich auch die Person hinter der Forscherin. Ich frage mich, wie ihr Weg wohl ausgesehen hat, welche Herausforderungen sie meistern musste und welche besonderen Erfolge sie für sich verbucht. „Für mich ist es immer etwas Schönes, wenn am Ende eines Projekts die Ergebnisse sichtbar sind und auch  wahrgenommen werden. Sei es von der wissenschaftlichen Community oder in den jeweiligen Kontexten für die sie relevant sind“, erklärt sie nach kurzem Nachdenken. Zu den Höhepunkten ihrer Arbeit am Institut zählen für sie die Einspeisung ihrer Forschungsergebnisse in die Gesetzgebung des EU-Parlaments, das Zusammenführen der internationalen TA-Community zu einer Konferenz zum Themenfeld Digitalisierung im ZKM in Karlsruhe, aber auch die Gelegenheit mit einem Statement in der Tagesschau zu Wort zu kommen.

Ihre Promotion und letztlich die Entfristung ihrer Stelle am Institut waren für sie wichtige Schritte ihrer Laufbahn. Verständlich, denn unbefristete Stellen sind im Forschungsbereich eine Rarität. Schon seit Jahren kritisieren Wissenschaftler*innen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, weil es Kettenbefristungen legitimiert. Unter dem Hashtag #IchbinHanna machten sie ihrem Frust auch in den sozialen Netzwerken Luft.

Für unsere gemeinsam Fotos gehen wir auf Tour im Lichthof und landen schließlich auf dem Balkon des ITAS – bei strahlendem Sonnenschein. Im Hintergrund streckt sich zwar der Schlossturm, auf unser Selfie bekommen wir ihn aber trotz einiger Bemühungen nicht. Dennoch bietet sich hier die perfekte Kulisse, um ein bisschen mehr darüber zu erfahren, wie sich das Leben und Arbeiten in Karlsruhe für Nierling anfühlt. „Als ich hier begann, waren wir knapp 40 Leute – mittlerweile sind wir ungefähr 120. Es ist immer viel los am Institut und ich mag die Dynamik.“ Sie lebe seit 2005 in Karlsruhe und schätze besonders die positive Entwicklung des ITAS seither. „Es war nie langweilig hier zu arbeiten“, resümiert sie begeistert.

Auch privat kann sie der Stadt so einiges abgewinnen. Ihre vorherigen Stationen wie Zürich oder Lüneburg erschienen ihr zunächst interessanter und auch pittoresker. Auch die Sommer waren ihr öfter mal etwas zu warm, aber mittlerweile schätze sie die schöne Umgebung, wie beispielsweise den nahegelegenen Schwarzwald. Auch die vielfältigen Angebote für Familien begeistern sie: „Kinderkonzerte und Theater für Familien – hier wird wirklich ein schönes Kulturprogramm geboten.“ Welch schöner Abschluss für ein spannendes und inspirierendes Gespräch. Voller Eindrücke verlasse ich beschwingt das ITAS an einem typischen Karlsruher Sommertag – etwas heiß, aber mit wunderschönem blauem Himmel.